Kleine Geschichte von zwei Welten
Ich hab ein Buch gelesen über eine Frau die im Dschungel in einem ‚primitiven‘ Stamm aufgewachsen ist. Ich fand das Buch so gut, dass ich ihre Geschichte so gut es geht teilen wollte:
Es war einmal ein kleines Mädchen das im Urwald aufwuchs. Ihre Eltern waren Forscher und lebten mit ihren drei Kindern für viele Jahre bei isolierten Stammesvölkern. Diese Stämme hatten keinen Kontakt zur Außenwelt und wussten nicht, dass die Welt hinter dem Dschungel weiter ging. Sie kannten nur ihren Dschungel und dessen Gesetzmäßigkeiten. Dieses Mädchen wurde genau wie alle Stammeskinder vom gesamten Stamm großgezogen und lebte dort, bis sie eine junge Erwachsene wurde. Als Kind wurde sie von den Stammesleuten für einen Jungen gehalten, da sie eine recht wilde Natur hatte, wie alle Jungs des Stammes auf Bäume kletterte und sich sehr für die Jagd interessierte. Für die Stammesleute war es sehr verwunderlich, dass sie ein Mädchen sein sollte. Es musste sich um einen Irrtum handeln und so wurde sie wie ein Stammesjunge zur Jagd ausgebildet.

Zunächst wurde aber nicht gelernt mit Pfeil und Bogen zu schießen, sondern zuerst wurden ihre Sinne trainiert. Sie lernte den Urwald zu erspüren und zu begreifen. Und zwar lernte sie ohne ihre Augen zu sehen, ohne Ohren zu hören und ohne Nase zu riechen. Sie spürte und fühlte die Pflanzenwelt, die Tierwelt und auch die Menschenwelt. Ihre Sinne waren nach einiger Zeit so geschärft, dass sie irgendwann ein Erdbeben einen Tag zuvor erspüren, Emotionen fühlen und Gedanken lesen konnte.Doch als das Mädchen größer wurde und es nun auch sichtlich zur Frau wurde, war auch den Stammesleuten klar, dass sie kein Junge war und wurde von der Jagd ausgeschlossen. Sie musste nun für den Stamm typische Mädchen- und Frauenaufgaben erledigen. Das Leben im Stamm hatte seine ganz eigene Ordnung. Klare Arbeitsaufteilungen und Regeln dienten dem Überleben des Stammes. Individuelle Wünsche mussten sich dieser Ordnung unterordnen. Und so hat sich auch das Mädchen schweren Herzens an diese Regeln gehalten.

Von Erzählungen ihrer Eltern war das Mädchen neugierig geworden auf die Welt außerhalb des Dschungels und wollte sie kennenlernen. Mit 17 Jahren also ging sie weg um in der westlichen Welt zu leben, aus der ihre Eltern stammten. Doch was da draußen auf sie wartete, das überforderte die junge Frau. Millionen ungewohnte Reize wirkten auf einmal ungefiltert auf sie ein und sie erlebte einen heftigen Kulturschock. Sie hatte die Töne des Dschungels für den Lärm einer Stadt getauscht, die grüne Welt gegen eine graue. Und auch die Menschen waren so anders. Im Dschungel war sie nie allein. Und hier fühlte sie sich oft einsam. Mit der Zeit fand sich das Mädchen in ihrer neuen Umgebung zurecht und schloss Freundschaften. Doch den Dschungel vermisste sie schmerzlich und sie fühlte, sie passte einfach nicht in diese schnelllebige Welt. Als sie sich entschloss in den Dschungel zurückzukehren, erfuhr sie, dass sie schwanger war und entschied sich zu bleiben. So vergingen viele Jahre. Sie wurde Mutter von insgesamt vier Kindern und versuchte sich so gut es ging anzupassen und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Doch das einst so wilde Mädchen war innerlich zerrissen.

Im Stamm muss man als Individuum unsichtbar werden, darf nur wenig persönliche Entscheidungen treffen, dafür hat man immer den Schutz der Gruppe. Existenzsangst gibt es im Urwald nicht, denn für alles ist gesorgt. In der westlichen Welt hingegen hat man die Verantwortung für ein funktionierendes Leben selbst in der Hand. Man muss jemand sein und vor allem mental stark sein, um in dieser Welt überleben zu können. Ist man es nicht, hat man es schwer.Es war wie in einer gespiegelten Welt: Wenn es einem Stammesmitglied im Dschungel seelisch nicht gut geht, dann wird sich diesem Menschen angenommen. Es wird sich solange um ihn/sie gekümmert, bis es wieder besser ist. Und wenn das Monate dauert. Körperliche Wunden werden hingegen ignoriert, denn sie sind nach Glauben des Stammesvolkes ein Fluch gegen den man nichts in der Hand hat. So muss man im Dschungel körperlich stark und unversehrt sein, denn da bekommt man keine Hilfe. Im Westen erlebte die Frau das Gegenteil: Körperliche Wehwechen und Leiden werden sehr ernst genommen und sofort behandelt. Doch seelische Schmerzen werden in der Gesellschaft oft mit Schwäche verbunden; mit Versagen gleichgesetzt. Deshalb zeigen sie die Menschen nicht gerne und unterdrücken sie meist. Vor allem das sorgte bei der Frau für Verwirrung, denn sie konnte durch ihr Jagdtraining Emotionen fühlen. Und oft passten die erspürte Emotionen nicht zudem wie sich die Menschen gaben.

Als sie lebensbedrohlich erkrankte und ihr im Westen keiner helfen konnte, ging die Frau zurück in den Urwald um dort ein Heilmittel zu suchen. Nach fünf Jahren Suche konnte ihr tatsächlich geholfen werden und sie wurde wieder vollständig gesund. Doch nun hatte sie sich wieder an das Leben im Dschungel gewöhnt. Folglich wollte sie nicht mehr in den Westen gehen. Ihr innerer Konflikt war hier aber noch nicht beendet, denn sie hatte ihren Kindern ein Versprechen gegeben, zu ihnen zurückzukommen. Als ihr Wegbegleiter sie dazu bringen wollte heimzukehren, um endlich Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, spitzte sich ihre jahrzehntelang andauernde Zerrissenheit zu einem heftigen Streit zu. Nach diesem Streit wurde sie von dem Stamm für immer verbannt. Sie erkannte dann, dass sie nirgends richtig Zuhause ist. Im Dschungel wird sie immer eine „Farblose“ sein (so nennen die Stammesleute weiße Menschen). Im Westen, sich immer anders fühlen. Und so kehrte sie zu ihren Kindern nach Hause zurück, zu ihrem eigenen kleinen Stamm. Ihre Zerrissenheit verschwand an dem Tag an dem sie sich bewusst für dieses Leben entschied. Und an diesem Tag wurde sie auch irgendwie endlich erwachsen.

Diese Lebensgeschichte von Sabine Kuegler hat mich total fasziniert. Diese Frau, die so lange mit ihrer inneren Zerrissenheit lebte und erst mit Ende 40 ihren Frieden mit der Situation fand. Und das nicht durch eine Änderung im Außen, sondern durch eine Entscheidung die sie mit sich selbst getroffen hatte. Ich denke ihre Geschichte und dieses Gefühl zerrissen zu sein, geht mit vielen Menschen in Resonanz. Mit Menschen die sich irgendwie anders fühlen, anders sind, oder in einer anderen Kultur aufgewachsen sind und sich nun in einer ungewohnten Kultur zurechtfinden müssen. Auch ich fühle diesen inneren Konflikt in mir. Irgendwie hatte ich in Deutschland mich nie richtig Zuhause gefühlt. Und hier? Auch irgendwie nicht. Vielleicht noch nicht? Vielleicht ist es ja eine Sache der Zeit, bis dieses Gefühl von Zuhause Einzug erhält. Oder ich muss mich bewusst dafür entscheiden, dass Zuhause da ist wo meine kleine Familie ist. Doch was ist mit meiner anderen Familie? Mit meiner Mama und meinen Geschwistern zu denen ich immer einen innigen Kontakt hatte. Meine Nichten und Neffen die die letzten drei Jahre so groß geworden sind und ich eigentlich überhaupt nichts davon mitbekommen habe. Gewöhne ich mich irgendwann an diesen schmerzlichen Verlust? Natürlich lebt jeder sein Leben aber ich war einst fester Teil dieser Familie. Und nun habe ich mich entschieden wegzugehen um einen anderen Lebensentwurf zu leben. Ich habe es nie bereut, doch frage ich mich, war der Preis zu hoch den ich bezahlt habe? Werde ich mir irgendwann denken, schade, dass ich das alles verpasst habe? Das ist meine Bürde. Und das tut weh. Aber: Hätte, werde, würde. Auch mit einem vergammelten Ziegenschädel der einem in den Weg geworfen wird, kann man was Schönes machen. Ich mache nun Gulasch, also das Beste draus.
Vieles kommt irgendwie in Wellen. Manchmal da vermisse ich meine Familie in Deutschland sehr und manchmal reicht die unsichtbare Herzensverbindung und es ist einfach immer schön zu wissen, dass es sie gibt. Auf jeden Fall bin ich für immer dankbar ein Teil davon zu sein.
Alles Liebe, eure Janice.
